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Deutschlands vergessene Blütejahre

Im jungen Kaiserreich galten Globalisierung und Innovationen als Chance. Viele der Strukturprobleme, die überwunden werden mußten, erinnern an heute

Wir stehen unter dem Eindruck, daß plötzlich eine ungeheure Macht in unserer Mitte aufgetaucht ist", schrieb die Londoner "Times" über die Ereignisse, die sich zu Beginn des Jahres 1871 zutrugen: Frankreich war von Preußen-Deutschland besiegt worden. In Versailles hatte Otto von Bismarck den preußischen König Wilhelm I. am 18. Januar 1871 zum Deutschen Kaiser ausgerufen. Die Nation taumelte im Glück der Einheit, schien doch die alte Zwietracht überwunden zu sein.

Entsprechend euphorisch schauten die Deutschen in die Zukunft. Nach der Überwindung der Kleinstaatereien im Innern mit Zollverein und Norddeutschem Bund war nun der Weg zur Weltmacht frei geworden. Das Entwicklungspotential des politisch saturierten jungen Nationalstaates lag in der Wirtschaft. In einem beispiellosen Siegeslauf setzte sich dieser fortan an die Spitze der industriellen Entwicklung in Europa.

Dabei war die große Euphorie des Aufbruchs, der - wie überall auf dem alten Kontinent - seit der Erfindung der Dampfmaschine und des Telegraphen kaum Grenzen zu kennen schien, zunächst schnell verflogen. Im Mai 1873 kam es zum Wiener Börsen-Crash. Dies blieb nicht ohne Folgen für Deutschland, wo das Spekulationsfieber den realen Aufschwung längst überboten hatte. Die Aktienkurse gerieten in den freien Fall. Die Zahl der Firmenpleiten erreichte eine beängstigende Größenordnung. Und die deflationistische Geldpolitik der Reichsbank verschärfte die Lage noch.

Doch diese Konjunkturkrise, der "Gründerkrach", der sich mehr als hundert Jahre später nach der zweiten deutschen Einigung zu wiederholen schien, war weniger eine "große Depression", von der Historiker wie Hans Rosenberg oder Hans-Ulrich Wehler schrieben. Es war vielmehr eine Modernisierungskrise. Die Wirtschaft des jungen Kaiserreiches mußte sich den rasant veränderten ökonomischen und technischen Bedingungen anpassen.

In Europa begann sich nämlich mit dem schnellen Ausbau des Eisenbahnnetzes ein riesiger Markt zu bilden. Den wirtschaftlichen Aktivitäten schienen neue Dimensionen eröffnet worden zu sein. Die Waren- und Kapitalströme flossen über staatliche Grenzen hinweg. Dies war ein Anfang der Globalisierung. Was heute als neue, alles bestimmende Herausforderung für unsere Zukunft empfunden wird, ist nichts anderes als ein weiterer Schub dieser Entwicklung, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts begonnen hatte.

Selbst die Probleme von gestern erinnern an die von heute: So klaffte besonders im Kaiserreich die Rentabilität von Industrie und Landwirtschaft in den nun zusammenwachsenden Ländern weit auseinander. Getreide aus Rußland und aus Übersee war gegenüber der deutschen Produktion konkurrenzlos billig. Dagegen sollten Schutzzölle helfen, die Bismarck 1879 einführte und die wiederum Befürworter des Freihandels auf den Plan riefen.

Industriestaat oder Agrarstaat, lautete damals die leidenschaftlich diskutierte Alternative für das Reich. Es war ein Konflikt zwischen agrarprotektionistischen und weltmarktorientierten Interessen, zwischen den Exponenten des Handels, der Exportindustrie und den linksliberalen Parteien einerseits sowie ihren Gegnern aus den Reihen der Landwirtschaft und einer protektionistisch orientierten Mehrheit im Berliner Reichstag andererseits.

Bismarck, der als Reichskanzler die gesamtwirtschaftlichen Interessen im Blick haben mußte, war als ostelbischer Großagrarier zwar Partei. Gleichwohl waren die Getreidezölle nicht nur ein Anliegen der preußischen Junker, zu denen er gehörte. Auch die westfälischen Bauernvereine kämpften mit demselben Nachdruck für den Zollschutz ihrer Erzeugnisse. Dennoch war die Landwirtschaft enormem Modernisierungsdruck ausgeliefert, der dazu führte, daß ihre Erträge stiegen.

Während die Landwirtschaft ein Sorgenkind des Kaiserreiches blieb, setzte in den 80er Jahren ein enormes Wachstum der Industrie ein. Das galt nicht nur für die Schwerindustrie, sondern vor allem für neue Industriezweige. So wurde die Elektroindustrie durch bahnbrechende Erfindungen, wie des Elektromotors und der Glühlampe, beflügelt. Alles in den Schatten stellte die chemische Industrie. Das von Bayer produzierte Schmerzmittel Aspirin wurde zum globalen Verkaufsschlager. Zu Beginn der 80er Jahre verfügte die chemische Industrie Deutschlands auf dem Weltmarkt über einen Anteil von fünfzig Prozent, der bis zur Jahrhundertwende auf neunzig Prozent gesteigert werden konnte.

Einen wesentlichen Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung leistete das Bankensystem. Zu der Vielzahl kleiner und kleinster Privatbanken kamen seit Beginn der siebziger Jahre Aktienbanken, die sich zu Großbanken entwickelten. Sie versorgten in dem kapitalarmen Deutschland die Industrie mit den nötigen Krediten.

Auch dies trug dazu bei, daß der Anteil des Außenhandels am Bruttoinlandsprodukt im Jahre 1913 auf beachtliche 31,1 Prozent steigen sollte. Noch Mitte der 1970er Jahre lag die Außenhandelsquote, also das Verhältnis von Exporten und Importen zum Bruttoinlandsprodukt, in den wichtigsten OECD-Ländern unter dieser Größe aus dem Deutschland des Jahres 1913. Auch 1995 überschritten Deutschland und Frankreich dieses Niveau nur knapp, während Großbritannien noch immer darunterlag - Zahlen, die zeigen, daß bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein mit heute vergleichbarer Grad der weltwirtschaftlichen Verflechtung erreicht worden war.

Die wirtschaftliche Blüte Deutschlands gründete freilich nicht allein in den Chancen des grenzüberschreitenden Warenverkehrs, wie sie sich durch die Globalisierung aufgetan hatten. Neben der Wirtschaftspolitik gründete die Blüte auch im Bildungswesen des so widersprüchlichen Staates, der autoritärer Militärstaat und gleichzeitig liberaler Rechtsstaat war, in dem sich "Modernes mit Überaltertem" mischte, wie es der Historiker Hennig Köhler in dem Buch "Deutschland auf dem Weg zu sich selbst" ausdrückte.

Dieses dreigliedrige Bildungswesen, das von der Volksschule über das Gymnasium bis zur Universität reichte, war hocheffizient. Anders als das angelsächsischer Staaten zielte es nicht auf die Herausbildung von Eliten, sondern auf Breitenbildung. Eben diese Breitenwirkung lieferte das Potential für damalige Verhältnisse gut ausgebildeter Menschen, ohne die der innovative Vorsprung und damit die höhere Qualität deutscher Produkte nicht hätte erreicht werden können. Das "made in Germany", ursprünglich von den Engländern als Zeichen minderer Qualität eingeführt, konnte nur so zum weltweit begehrten Gütesiegel werden.

Zudem gelang es der wilhelminischen Politik, einen für die damalige Zeit zukunftsweisenden sozialen Ausgleich zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft anzubahnen. Dabei waren die in Europa einzigartige Sozialversicherungsgesetzgebung der achtziger Jahre und die Reformen der Nach-Bismarck-Zeit keineswegs nur Reaktion auf die Herausforderung der machtvoll und effektiv organisierten sozialdemokratischen Bewegung. Sie waren vielmehr auch Konsequenz konservativen, zum Teil christlichen Denkens bei den herrschenden Eliten.

Gleichwohl blieb das preußisch dominierte Kaiserreich ein Staat des gesellschaftlichen Nebeneinanders und nicht des Miteinanders. Der Offizier fühlte sich über den Kaufmann erhaben. Der Bildungsbürger gab sich dem einfachen Mann überlegen. Der Städter schaute auf den Bauern herab. Und dennoch war dieses Kaiserreich trotz aller inneren Risse keine Klassengesellschaft. Vor allem der Militär- und auch der Staatsdienst eröffneten eine bislang nicht gekannte soziale Mobilität über die Herkunft hinweg.

Stabilisierend auf die Gesellschaft im wilhelminischen Deutschland wirkten auch andere Errungenschaften. So gelang es, im Gesundheitswesen dank großer Fortschritte die Sterbeziffer infolge von Infektionen einzudämmen. Das Kindbettfieber ging stark zurück und mit Beginn der Reihenimpfungen auch Seuchen wie Pocken oder Typhus. Die Lebenserwartung erhöhte sich bis 1914 auf 47,4 Jahre bei Männern und 50,7 Jahre bei Frauen. Sie lag damit etwa zwölf Jahre höher als bei der Generation der Großeltern.

Trotz des steigenden Lebensstandards breiter Bevölkerungsschichten konnte von einem Wirtschaftswunder, wie es die Bundesrepublik ab Mitte der 1950er Jahre erleben sollte, keine Rede sein. Die zunehmende Verstädterung und die damit einhergehende Wohnungsnot standen dagegen. Dennoch ging es den Menschen in Deutschland aber besser als je zuvor. Und die Gewißheit, bei strikter Sparsamkeit ein Auskommen und sogar eine gewisse Behaglichkeit des Lebens erreichen zu können, schuf Zufriedenheit.

Und noch etwas für die damalige Zeit von immenser Bedeutung: Niemals zuvor verfügten so viele Menschen über die sozialen und ökonomischen Möglichkeiten, Familien zu gründen. Kinderreichtum galt im Kaiserreich als Zeichen für Erfolg, nicht nur in den unteren Schichten. Die Folge war eine regelrechte Bevölkerungsexplosion, die eine weitere Voraussetzung für das Wirtschaftswachstum schuf, das sich in der Folge in den 90er Jahren noch einmal rasant beschleunigte.

So schrumpfte der Abstand zur ersten Wirtschafts- und Handelsmacht England rapide. Bis 1914 hatte Deutschland den britischen Konkurrenten fast eingeholt und in zukunftsträchtigen neuen Industrien ohnehin weit hinter sich gelassen. Dabei waren Deutschland und Großbritannien gegenseitig ihre besten Kunden. England exportierte vor allem Rohstoffe und Halbfabrikate ins Reich, während der deutsche Export hauptsächlich aus Fertigprodukten bestand.

Die deutsche Erfolgsgeschichte wies allerdings ein folgenschweres Defizit auf. Die Außenpolitik war nicht in der Lage, die grundsätzlich friedlichen Intentionen des deutschen Wirtschaftslebens umzusetzen oder auch nur zu vermitteln. So suchte Wilhelm II., berauscht von Deutschlands Aufstieg, mit der führenden Großmacht Großbritannien den maritimen Wettbewerb. Nach den Dampfschiffen, die eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Globalisierung darstellten, kamen nun die deutschen Panzerkreuzer. Denn zu einem selbstbewußten, starken Reich gehörte dem Verständnis des Monarchen zufolge auch eine starke Flotte.

Ohne Not forderte Wilhelm II. - unterstützt vom chauvinistisch-nationalen Teil des Bürgertums - mit seiner Flottenpolitik die Seemacht England heraus. Denn die Kontinentalmacht Deutschland brauchte weder für ihre territoriale Sicherheit noch für den Schutz ihrer Handelswege eine Schlachtflotte. Der Warenaustausch des Reiches war vor allem auf Europa gerichtet. Die überseeischen Kolonien, die hauptsächlich in den achtziger Jahren erworben worden waren, spielten dabei keine Rolle. Nicht einmal vier Prozent der Rohstoffe kamen von dort.

In der verfehlten Flottenpolitik gründete die wachsende Gegnerschaft mit dem Haupthandelspartner England. Hinzu kam, daß London nicht allein blieb, denn auch die Regierungen in Paris und Moskau wollten Deutschlands Aufstieg in Europa stoppen. Frankreich suchte die Revanche für die Niederlage von 1870/71. Und Rußland sah seine Interessen bei den slawischen Brüdern auf dem Balkan, die mit denen des deutschen Verbündeten Österreich-Ungarn kollidierten.

Der Erste Weltkrieg war somit letztendlich eine Folge jener Mächtekonstellation, wie sie sich in der Nach-Bismarck-Zeit abzeichnete. Gleichwohl war er nicht die zwanghafte Konsequenz aus Deutschlands, den Nachbarn furchteinflößendem Aufstieg zur wirtschaftlichen Großmacht.

Das Reich griff nicht nach der Weltmacht, was Historiker wie Fritz Fischer und Hans-Ulrich Wehler glauben machen wollen. Das Kaiserreich hatte vielmehr, wie Thomas Nipperdey in seinem Werk über die "Deutsche Geschichte 1866 bis 1918" schrieb, "eine offene Zukunft". Mit anderen Worten: Deutschlands vergessene Blüte hätte im August 1914 nicht jenes jähe Ende finden müssen. Ralf Georg Reuth


Artikel erschienen am 15. Januar 2006

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